Rainer Maria Rilke – Das Buch der Bilder 1/1

Eingang

Wer du auch seist: am Abend tritt hinaus aus deiner Stube,
drin du alles weißt;
als letztes vor der Ferne liegt dein Haus: wer du auch seist.
Mit deinen Augen, welche müde kaum von der verbrauchten Schwelle sich befrein, hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum und stellst ihn vor den Himmel: schlank, allein.
Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.
Und wie dein Wille ihren Sinn begreift lassen sie deine Augen zärtlich los…

Aus einem April

Wieder duftet der Wald.
Es heben die schwebenden Lerchen mit sich den Himmel empor, der unseren Schultern schwer war;
zwar sah man noch durch die Äste den Tag, wie er leer war,-
aber nach langen, regnenden Nachmittagen kommen die goldübersonnten neueren Stunden,
vor denen flüchtend an fernen Häuserfronten alle die wunden Fenster furchtsam mit Flügeln schlagen.
Dann wird es still. Sogar der Regen geht leiser über der Steine ruhig dunkelnden Glanz.
Alle Geräusche ducken sich ganz in die glänzenden Knospen der Reiser.

Mondnacht

Süddeutsche Nacht, ganz breit im reifen Monde,und mild wie aller Märchen Wiederkehr.
Vom Turme fallen viele Stunden schwer in ihre Tiefen nieder wie ins Meer, –
und dann ein Rauschen und ein Ruf der Ronde,
und eine Weile bleibt das Schweigen leer;
und eine Geige dann (Gott weiß woher) erwacht und sagt ganz langsam: Eine Blonde…

Ritter

Reitet der Ritter in schwarzem Stahl hinaus in die rauschende Welt.
Und draußen ist Alles: der Tag und das Tal und der Freund und der Feind und das Mahl im Saal
und der Mai und die Maid und der Wald und der Gral, und Gott ist selber vieltausendmal an alle Straßen gestellt.
Doch in dem Panzer des Ritters drinnen,
hinter den finstersten Ringen, hockt der Tod und muß sinnen und sinnen:
Wann wird die Klinge springen über die Eisenhecke,
die fremde befreiende Klinge, die mich aus meinem Verstecke holt, drin ich so viele gebückte Tage verbringe, –
daß ich mich endlich strecke und spiele und singe.

Mädchenmelancholie

Mir fällt ein junger Ritter ein fast wie ein alter Spruch.
Der kam. So kommt manchmal im Hain der große Sturm und hüllt dich ein.
Der ging. So läßt das Benedein der großen Glocken dich allein oft mitten im Gebet…
Dann willst du in die Stille schrein, und weinst doch nur ganz leis hinein tief in dein kühles Tuch.
Mir fällt ein junger Ritter ein, der weit in Waffen geht.
Sein Lächeln war so weich und fein: wie Glanz auf altem Elfenbein,
wie Heimweh, wie ein Weihnachtsschnein im dunkeln Dorf, wie Türkisstein um den sich lauter Perlen reihn,
wie Mondenschein auf einem lieben Buch.

Von den Mädchen

I
Andere müssen auf langen Wegen zu den dunklen Dichtern gehn;
fragen immer irgendwen, ob er nicht einen hat singen sehn oder Hände auf Saiten legen.
Nur die Mädchen fragen nicht, welche Brücke zu Bildern führe;
lächeln nur, lichter als Perlenschnüre, die man an Schalen von Silber hält.
Aus ihrem Leben geht jede Türe in einen Dichter und in die Welt.

II
Mädchen, Dichter sind, die von euch lernen das zu sagen, was ihr einsam seid;
und sie lernen leben an euch Fernen, wie die Abende an großen Sternen sich gewöhnen an die Ewigkeit.
Keine darf sich je dem Dichter schenken, wenn sein Auge auch um Frauen bat;
denn er kann euch nur als Mädchen denken: das Gefühl in euren Handgelenken würde brechen von Brokat.
Laßt ihn einsam sein in seinem Garten, wo er euch wie Ewige empfing auf den Wegen, die er täglich ging,
bei den Bänken, welche schattig warten, und im Zimmer, wo die Laute hing.
Geht!… es dunkelt. Seine Sinne suchen eure Stimme und Gestalt nicht mehr.
Und die Wege liebt er lang und leer und kein Weißes unter dunklen Buchen, –
und die stumme Stube liebt er sehr.
….. Eure Stimmen hört er ferne gehn (unter Menschen, die er müde meidet)
und: sein zärtliches Gedenken leidet im Gefühle, daß euch viele sehn.

Das Lied der Bildsäule

Wer ist es, wer mich so liebt, daß er sein liebes Leben verstößt?
Wenn einer für mich ertrinkt im Meer, so bin ich vom Steine zur Wiederkehr ins Leben, ins Leben erlöst.
Ich sehne mich so nach dem rauschenden Blut;
der Stein ist so still.
Ich träume vom Leben: das Leben ist gut.
Hat keiner den Mut, durch den ich erwachen will?
Und werd ich einmal im Leben sein, das mir alles Goldenste giebt,
– – – – – – – – – – – – – – – – – so werd ich allein weinen, weinen nach meinem Stein.
Was hilft mir mein Blut, wenn es reift wie der Wein?
Es kann aus dem Meer nicht den Einen schrein, der mich am meisten geliebt.

Der Wahnsinn

Sie muß immer sinnen: Ich bin… ich bin…
Wer bist du denn, Marie?
Eine Königin, eine Königin!
In die Kniee vor mir, in die Knie!
Sie muß immer weinen: Ich war… ich war…
Wer warst du denn, Marie? Ein Niemandskind, ganz arm und bar, und ich kann dir nicht sagen wie.
Und wurdest aus einem solchen Kind eine Fürstin, vor der man kniet?
Weil die Dinge alle anders sind, als man sie beim Betteln sieht.
So haben die Dinge dich groß gemacht, und kannst du noch sagen wann?
Eine Nacht, eine Nacht, über eine Nacht, –
und sie sprachen mich anders an.
Ich trat in die Gasse hinaus und sieh: die ist wie mit Saiten bespannt; da wurde Marie Melodie, Melodie…
und tanzte von Rand zu Rand.
Die Leute schlichen so ängstlich hin, wie hart an die Häuser gepflanzt, –
denn das darf doch nur eine Königin, daß sie tanzt in den Gassen: tanzt!…

Die Liebende

Das ist mein Fenster. Eben bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben, und wo beginnt die Nacht?
Ich könnte meinen, alles wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles Tiefe, verdunkelt, stumm.
Ich könnte auch noch die Sterne fassen in mir, so groß scheint mir mein Herz;
so gerne ließ es ihn wieder los den ich vielleicht zu lieben, vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie niebeschrieben sieht mich mein Schicksal an.
Was bin ich unter diese Unendlichkeit gelegt, duftend wie eine Wiese, hin und her bewegt, rufend zugleich
und bange, daß einer den Ruf vernimmt, und zum Untergange in einem Andern bestimmt.

Die Braut

Ruf mich, Geliebter, ruf mich laut!
Laß deine Braut nicht so lange am Fenster stehn.
In den alten Platanenalleen wacht der Abend nicht mehr: sie sind leer.
Und kommst du mich nicht in das nächtliche Haus mit deiner Stimme verschließen,
so muß ich mich aus meinen Händen hinaus in die Gärten des Dunkelblaus ergießen…

Die Stille

Hörst du Geliebte, ich hebe die Hände – hörst du: es rauscht…
Welche Gebärde der Einsamen fände sich nicht von vielen Dingen belauscht?
Hörst du, Geliebte, ich schließe die Lider und auch das ist Geräusch bis zu dir.
Hörst du, Geliebte, ich hebe sie wieder……
… aber warum bist du nicht hier.
Der Abdruck meiner kleinsten Bewegung bleibt in der seidenen Stille sichtbar;
unvernichtbar drückt die geringste Erregung in den gespannten Vorhang der Ferne sich ein.
Auf meinen Atemzügen heben und senken die Sterne sich.
Zu meinen Lippen kommen die Düfte zur Tränke, und ich erkenne die Handgelenke entfernter Engel.
Nur die ich denke: Dich seh ich nicht.

Musik

Was spielst du, Knabe?
Durch die Garten gings wie viele Schritte, flüsternde Befehle.
Was spielst du, Knabe?
Siehe deine Seel verfing sich in den Stäben der Syrinx.
Was lockst du sie?
Der Klang ist wie ein Kerker, darin sie sich versäumt und sich versehnt;
stark ist dein Leben, doch dein Lied ist stärker, an deine Sehnsucht schluchzend angelehnt. –
Gieb ihr ein Schweigen, daß die Seele leise heimkehre in das Flutende und Viele,
darin sie lebte, wachsend, weit und weise, eh du sie zwangst in deine zarten Spiele.
Wie sie schon matter mit den Flügeln schlägt:
so wirst du, Träumer, ihren Flug vergeuden, daß ihre Schwinge, vom Gesang zersägt,
sie nicht mehr über meine Mauern trägt, wenn ich sie rufen werde zu den Freuden.

Die Engel

Sie haben alle müde Münde und helle Seelen ohne Saum.
Und eine Sehnsucht (wie nach Sünde) geht ihnen manchmal durch den Traum.
Fast gleichen sie einander alle; in Gottes Gärten schweigen sie,
wie viele, viele Intervalle in seiner Macht und Melodie.
Nur wenn sie ihre Flügel breiten, sind sie die Wecker eines Winds:
als ginge Gott mit seinen weiten Bildhauerhänden durch die Seiten im dunklen Buch des Anbeginns.

Der Schutzengel

Du bist der Vogel, dessen Flügel kamen, wenn ich erwachte in der Nacht und rief.
Nur mit den Armen rief ich, denn dein Namen ist wie ein Abgrund, tausend Nächte tief.
Du bist der Schatten, drin ich still entschlief, und jeden Traum ersinnt in mir dein Samen, –
du bist das Bild, ich aber bin der Rahmen, der dich ergänzt in glänzendem Relief.
Wie nenn ich dich? Sieh, meine Lippen lahmen.
Du bist der Anfang, der sich groß ergießt,
ich bin das langsame und bange Amen, das deine Schönheit scheu beschließt.
Du hast mich oft aus dunklem Ruhn gerissen,
wenn mir das Schlafen wie ein Grab erschien und wie Verlorengehen und Entfliehn,
da hobst du mich aus Herzensfinsternissen
und wolltest mich auf allen Türmen hissen wie Scharlachfahnen und wie Draperien.
Du: der von Wundern redet wie vom Wissen und von den Menschen wie von Melodien und von den Rosen:
von Ereignissen, die flammend sich in deinem Blick vollziehn,
du Seliger, wann nennst du einmal Ihn,
aus dessen siebentem und letztem Tage noch immer Glanz auf deinem Flügelschlage verloren liegt…
Befiehlst du, daß ich frage?

Martyrinnen

Martyrin ist sie.
Und als harten Falls mit einem Ruck das Beil durch ihre kurze Jugend ging,
da legte sich der feine rote Ring um ihren Hals, und war der erste Schmuck,
den sie mit einem fremden Lächeln nahm;
aber auch den erträgt sie nur mit Scham.
Und wenn sie schläft, muß ihre junge Schwester
(die, kindisch noch, sich mit der Wunde schmückt von jenem Stein, der ihr die Stirn erdrückt)
die harten Arme um den Hals ihr halten, und oft im Traume fleht die andre:
Fester, fester.
Und da fällt es dem Kinde manchmal ein,
die Stirne mit dem Bild von jenem Stein zu bergen in des sanften Nachtgewandes Falten,
das von der Schwester Atmen hell sich hebt, voll wie ein Segel, das vom Winde lebt.
Das ist die Stunde, da sie heilig sind, die stille Jungfrau und das blasse Kind.
Da sind sie wieder wie vor allem Leide und schlafen arm und haben keinen Ruhm,
und ihre Seelen sind wie weiße Seide,und von derselben Sehnsucht beben beide und fürchten sich vor ihrem Heldentum.
Und du kannst meinen: wenn sie aus den Betten aufstünden bei dem nächsten Morgenlichte
und, mit demselben träumenden Gesichte, die Gassen kämen in den kleinen Städten, -es bliebe keiner hinter ihnen staunen, kein Fenster klirrte an den Häuserreihn,
und nirgends bei den Frauen ging ein Raunen, und keines von den Kindern würde schrein.
Sie schritten durch die Stille in den Hemden (die flachen Falten geben keinen Glanz) so fremd,
und dennoch keinem zum Befremden, so wie zu Festen, aber ohne Kranz.

Die Heilige

Das Volk war durstig; also ging das eine durstlose Mädchen,
ging die Steine um Wasser flehen für ein ganzes Volk.
Doch ohne Zeichen blieb der Zweig der Weide, und sie ermattete am langen Gehn
und dachte endlich nur, daß einer leide,
(ein kranker Knabe, und sie hatten beide sich einmal abends ahnend angesehn).
Da neigte sich die junge Weidenrute in ihren Händen dürstend wie ein Tier:jetzt ging sie blühend über ihrem Blute, und rauschend ging ihr Blut tief unter ihr.

Kindheit

Da rinnt der Schule lange Angst und Zeit mit Warten hin, mit lauter dumpfen Dingen.
O Einsamkeit, o schweres Zeitverbringen…
Und dann hinaus: die Straßen sprühn und klingen und auf den Plätzen die Fontänen springen
und in den Gärten wird die Welt so weit -.
Und durch das alles gehn im kleinen Kleid, ganz anders als die andern gehn und gingen -:

O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen, o Einsamkeit.
Und in das alles fern hinauszuschauen: ;Männer und Frauen;
Männer, Männer, Frauen und Kinder, welche anders sind und bunt;
und da ein Haus und dann und wann ein Hund und Schrecken lautlos wechselnd mit Vertrauen -:

O Trauer ohne Sinn, o Traum, o Grauen, o Tiefe ohne Grund.
Und so zu spielen: Ball und Ring und Reifen in einem Garten, welcher sanft verblaßt,
und manchmal die Erwachsenen zu streifen, blind und verwildert in des Haschens Hast,
aber am Abend still, mit kleinen steifen Schritten nachhaus zu gehn, fest angefaßt -:
O immer mehr entweichendes Begreifen, ;o Angst, o Last.

Und stundenlang am großen grauen Teiche mit einem kleinen Segelschiff zu knien;
es zu vergessen, weil noch andre, gleich und schönere Segel durch die Ringe ziehn,
und denken müssen an das kleine bleiche Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien -:
O Kindheit, o entgleitende Vergleiche. Wohin? Wohin?

Aus einer Kindheit

Das Dunkeln war wie Reichtum in dem Raume, darin der Knabe, sehr verheimlicht, saß.
Und als die Mutter eintrat wie im Traume, erzitterte im stillen Schrank ein Glas.
Sie fühlte, wie das Zimmer sie verriet, und küßte ihren Knaben: Bist du hier?…
Dann schauten beide bang nach dem Klavier,
denn manchen Abend hatte sie ein Lied, darin das Kind sich seltsam tief verfing.
Es saß sehr still.
Sein großes Schauen hing an ihrer Hand, die ganz gebeugt vom Ringe,
als ob sie schwer in Schneewehn ginge, über die weißen Tasten ging.

Der Knabe

Ich möchte einer werden so wie die, die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren,
mit Fackeln, die gleich aufgegangnen Haaren in ihres Jagens großem Winde wehn.
Vorn möcht ich stehen wie in einem Kahne, groß und wie eine Fahne aufgerollt.
Dunkel, aber mit einem Helm von Gold, der unruhig glänzt.
Und hinter mir gereiht zehn Männer aus derselben Dunkelheit mit Helmen, die, wie meiner, unstät sind,
bald klar wie Glas, bald dunkel, alt und blind.
Und einer steht bei mir und bläst uns Raum mit der Trompete, welche blitzt und schreit,
und bläst uns eine schwarze Einsamkeit, durch die wir rasen wie ein rascher Traum:
Die Häuser fallen hinter uns ins Knie, die Gassen biegen sich uns schief entgegen,die Plätze weichen aus: wir fassen sie, und unsre Rosse rauschen wie ein Regen.

Das Abendmahl

Sie sind versammelt, staunende Verstörte, um ihn, der wie ein Weiser sich beschließt
und der sich fortnimmt denen er gehörte und der an ihnen fremd vorüberfließt.
Die alte Einsamkeit kommt über ihn, die ihn erzog zu seinem tiefen Handeln;
nun wird er wieder durch den Wald wandeln, und die ihn lieben werden vor ihm fliehn.
Er hat sie zu dem letzten Tisch entboten und (wie ein Schuß die Vögel aus den Schoten scheucht)
scheucht er ihre Hände aus den Broten mit seinem Wort: sie fliegen zu ihm her;
sie flattern bange durch die Tafelrunde und suchen einen Ausgang.
Aber er ist überall wie eine Dämmerstunde.