Rainer Maria Rilke – Das Buch der Bilder 1/2

Initale

Aus unendlichen Sehnsüchten steigen endliche Taten wie schwache Fontänen,
die sich zeitig und zitternd neigen.
Aber, die sich uns sonst verschweigen, unsere fröhlichen Kräfte –
zeigen sich in diesen tanzenden Tränen.

Zum Einschlafen zu sagen

Ich möchte jemanden einsingen, bei jemandem sitzen und sein.
Ich möchte dich wiegen und kleinsingen und begleiten schlafaus und schlafein.
Ich möchte der Einzige sein im Haus, der wüßte: die Nacht war kalt.
Und möchte horchen herein und hinaus in dich, in die Welt, in den Wald.
Die Uhren rufen sich schlagend an, und man sieht der Zeit auf den Grund.
Und unten geht noch ein fremder Mann und stört einen fremden Hund.
Dahinter wird Stille. Ich habe groß die Augen auf dich gelegt;
und sie halten dich sanft und lassen dich los, wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.

Menschen bei Nacht

Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.
Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht, und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.
Und machst du nachts deine Stube licht, um Menschen zu schauen ins Angesicht, so mußt du bedenken: wem.
Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt, das von ihren Gesichtern träuft,
und haben sie nachts sich zusammengesellt, so schaust du eine wankende Welt durcheinandergehäuft.
Auf ihren Stirnen hat gelber Schein alle Gedanken verdrängt, in ihren Blicken flackert der Wein,
an ihren Händen hängt die schwere Gebärde, mit der sie sich bei ihren Gesprächen verstehn; und dabei sagen sie:
Ich und Ich und meinen: Irgendwen.

Der Nachbar

Fremde Geige, gehst du mir nach?
In wieviel Städten schon sprach deine einsame Nacht zu meiner?
Spielen dich hunderte? Spielt dich einer?
Giebt es in allen großen Städten solche, die sich ohne dich schon in den den Flüssen verloren hätten?
Und warum trifft es immer mich?
Warum bin ich immer der Nachbar derer, die ich bange zwingend zu singen und zu sagen:
Das Leben ist schwerer als die Schwere von allen Dingen.

Pont Du Carrousel

Der blinde Mann, der auf der Brücke steht, grau wie ein Markstein namenloser Reiche,
er ist vielleicht das Ding, das immer gleiche, um das von fern die Sternenstunde geht,
und der Gestirne stiller Mittelpunkt. Denn alles um ihn irrt und rinnt und prunkt.
Er ist der unbewegliche Gerechte in viele wirre Wege hingestellt;der dunkle Eingang in die Unterwelt bei einem oberflächlichen Geschlechte.

Der Einsame

Wie einer, der auf fremden Meeren fuhr, so bin ich bei den ewig Einheimischen;
die vollen Tage stehn auf ihren Tischen, mir aber ist die Ferne voll Figur.
In mein Gesicht reicht eine Welt herein, die vielleicht unbewohnt ist wie ein Mond,
sie aber lassen kein Gefühl allein, und alle ihre Worte sind bewohnt.
Die Dinge, die ich weither mit mir nahm, sehn selten aus, gehalten an das Ihre -:
in ihrer großen Heimat sind sie Tiere, hier halten sie den Atem an vor Scham.

Die Ashanti

Keine Vision von fremden Ländern, kein Gefühl von braunen Frauen, die tanzen aus den fallenden Gewändern.
Keine wilde fremde Melodie. Keine Lieder, die vom Blute stammten, und kein Blut, das aus den Tiefen schrie.
Keine braunen Mädchen, die sich samten breiteten in Tropenmüdigkeit;
keine Augen, die wie Waffen flammten, und die Munde zum Gelächter breit.
Und ein wunderliches Sich-verstehen mit der hellen Menschen Eitelkeit.
Und mir war so bange hinzusehen.
O wie sind die Tiere so viel treuer, die in Gittern auf und niedergehn,
ohne Eintracht mit dem Treiben neuer fremder Dinge, die sie nicht verstehn;
und sie brennen wie ein stilles Feuer leise aus und sinken in sich ein,
teilnahmslos dem neuen Abenteuer und mit ihrem großen Blut allein.

Der Letzte

Ich habe kein Vaterhaus, und habe auch keines verloren; meine Mutter hat mich in die Welt hinaus geboren.
Da steh ich nun in der Welt und geh in die Welt immer tiefer hinein,
und habe mein Glück und habe mein Weh und habe jedes allein.
Und bin doch manch eines Erbe.
Mit drei Zweigen hat mein Geschlecht geblüht auf sieben Schlössern im Wald,
und wurde seines Wappens müd und war schon viel zu alt; –
und was sie mir ließen und was ich erwerbe zum alten Besitze, ist heimatlos.
In meinen Händen, in meinem Schooß muß ich es halten, bis ich sterbe.
Denn was ich fortstelle, hinein in die Welt, fällt, ist wie auf eine Welle gestellt.

Bangnis

Im welken Walde ist ein Vogelruf, der sinnlos scheint in diesem welken Walde.
Und dennoch ruht der runde Vogelruf in dieser Weile, die ihn schuf, breit wie ein Himmel auf dem welken Walde.
Gefügig räumt sich alles in den Schrei:
Das ganze Land scheint lautlos drin zu liegen, der große Wind scheint sich hineinzuschmiegen,
und die Minute, welche weiter will, ist bleich und still, als ob sie Dinge wüßte,
an denen jeder sterben müßte, aus ihm herausgestiegen.

Klage

O wie ist alles fern und lange vergangen.
Ich glaube, der Stern, von welchem ich Glanz empfange, ist seit Jahrtausenden tot.
Ich glaube, im Boot, das vorüberfuhr, hörte ich etwas Banges sagen.
Im Hause hat eine Uhr geschlagen… In welchem Haus?…
Ich möchte aus meinem Herzen hinaus unter den großen Himmel treten.
Ich möchte beten. Und einer von allen Sternen müßte wirklich noch sein.Ich glaube, ich wüßte, welcher allein gedauert hat, –
welcher wie eine weiße Stadt am Ende des Strahls in den Himmeln steht…

Einsamkeit

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen; von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden, wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden, enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen, in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…

Erinnerung

Und du wartest, erwartest das Eine, das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine, das Erwachen der Steine, Tiefen, dir zugekehrt.
Es dämmern im Bücherständer die Bände in Gold und Braun;
und du denkst an durchfahrene Länder, an Bilder, an die Gewänder wiederverlorener Fraun.
Und da weißt du auf einmal: das war es.Du erhebst dich, und vor dir steht eines vergangenen Jahres Angst und Gestalt und Gebet.

Ende des Herbstes

Ich sehe seit einer Zeit, wie alles sich verwandelt.
Etwas steht auf und handelt und tötet und tut Leid.
Von Mal zu Mal sind all die Gärten nicht dieselben;
von den gilbenden zu der gelben langsamem Verfall: wie war der Weg mir weit.
Jetzt bin ich bei den leeren und schaue durch alle Alleen.
Fast bis zu den fernen Meeren kann ich den ernsten schweren verwehrenden Himmel sehn.

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Am Rande der Nacht

Meine Stube und diese Weite, wach über nachbetendem Land, –
ist Eines. Ich bin eine Saite, über rauschende breite Resonanzen gespannt.
Die Dinge sind Geigenleiber, von murrendem Dunkel voll;
drin träumt das Weinen der Weiber, drin rührt sich im Schlafe der Groll ganzer Geschlechter…..
Ich soll silbern erzittern: dann wird Alles unter mir leben,
und was in den Dingen irrt, wird nach dem Lichte streben,
das von meinem tanzenden Tone, um welchen der Himmel wellt,
durch schmale, schmachtende Spalten in die alten Abgründe ohne Ende fällt…

Gebet

Ernster Engel aus Ebenholz: Du riesige Ruh.
Dein Schweigen schmolz noch nie in den Bränden von Büßerhänden.
Flammenumflehter!
Deine Beter sind stolz: wie du.
Der du versteinst, du über den Blicken beginnender König,
erkiese dir ein Geschlecht, dem du gerecht erscheinst, saumsinnender Riese.
Du, aller Matten Furchteinflößer, Einer ist größer als du: dein Schatten.

Fortschritt

Und wieder rauscht mein tiefes Leben lauter, als ob es jetzt in breitern Ufern ginge.
Immer verwandter werden mir die Dinge und alle Bilder immer angeschauter.
Dem Namenlosen fühl ich mich vertrauter:
Mit meinen Sinnen, wie mit Vögeln, reiche ich in die windigen Himmel aus der Eiche,
und in den abgebrochnen Tag der Teiche sinkt, wie auf Fischen stehend, mein Gefühl.

Vorgefühl

Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muß sie leben, während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
die Türen schließen noch sanft, und in den Kaminen ist Stille;
die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch schwer.
Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer.
Und breite mich aus und falle in mich hinein und werfe mich ab und bin ganz allein in dem großen Sturm.

Sturm

Wenn die Wolken, von Stürmen geschlagen, jagen:
Himmel von hundert Tagen über einem einzigen Tag -:
Dann fühl ich dich, Hetman, von fern (der du deine Kosaken gern zu dem größesten Herrn führen wolltest).
Deinen waagrechten Nacken fühl ich, Mazeppa.
Dann bin auch ich an das rasende Rennen eines rauchenden Rückens gebunden;
alle Dinge sind mir verschwunden, nur die Himmel kann ich erkennen:
Überdunkelt und überschienen lieg ich flach unter ihnen,
wie Ebenen liegen; meine Augen sind offen wie Teiche,
und in ihnen flüchtet das gleiche Fliegen.

Abend in Skåne

Der Park ist hoch.
Und wie aus einem Haus tret ich aus seiner Dämmerung heraus in Ebene und Abend.
In den Wind, denselben Wind, den auch die Wolken fühlen,
die hellen Flüsse und die Flügelmühlen, die langsam mahlend stehn am Himmelsrand.
Jetzt bin auch ich ein Ding in seiner Hand, das kleinste unter diesen Himmeln. – Schau:
Ist das Ein Himmel?: Selig lichtes Blau,in das sich immer reinere Wolken drängen,
Und drunter alle Weiß in Übergängen, und drüber jenes dünne, große Grau,
warmwallend wie auf roter Untermalung, und über allem diese stille Strahlung sinkender Sonne.
in sich bewegt und von sich selbst gehalten,
Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten und Hochgebirge vor den ersten Sternen
und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen, wie sie vielleicht mir Vögel kennen…

Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder, die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder, ein himmelfahrendes und eins, das fällt;
und lassen dich, zu keinem ganz gehörend, nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt –
und lassen dir (unsäglich zu entwirrn) dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend, abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Ernste Stunde

Wer jetzt weint irgendwo in der Welt, ohne Grund weint in der Welt, weint über mich.
Wer jetzt lacht irgendwo in der Nacht, ohne Grund lacht in der Nacht, lacht mich aus.
Wer jetzt geht irgendwo in der Welt,
ohne Grund geht in der Welt, geht zu mir.
Wer jetzt stirbt irgendwo in der Welt, ohne Grund stirbt in der Welt: sieht mich an.

Strophen

Ist einer, der nimmt alle in die Hand, daß sie wie Sand durch seine Finger rinnen.
Er wählt die schönsten aus den Königinnen und läßt sie sich in weißen Marmor hauen,
still liegend in des Mantels Melodie;
und legt die Könige zu ihren Frauen, gebildet aus dem gleichen Stein wie sie.
Ist einer, der nimmt alle in die Hand, daß sie wie schlechte Klingen sind und brechen.
Er ist kein Fremder, denn er wohnt im Blut, das unser Leben ist und rauscht und ruht.
Ich kann nicht glauben, daß er Unrecht tut; doch hör ich viele Böses von ihm sprechen.